Es war einmal ein Projekt. Es hatte alles: einen schicken Namen, hohe Erwartungen, eine Prise Digitalisierung und… keinerlei Plan. Was folgt, ist die Geschichte von Markus, einem Projektleiter wider Willen, einem Team ohne Richtung – und einer Erkenntnis, die so simpel wie entscheidend ist.
Eine Novelle für alle, die Projekte führen, begleiten oder irgendwann unfreiwillig übernehmen mussten. Ein Essay über den Wert guter Zusammenarbeit.
Die Beförderung
Als Markus an diesem Dienstagmorgen durch das gläserne Treppenhaus schlurfte, roch es nach Industriekaffee und überhitztem Drucker. Eigentlich ein ganz normaler Tag – bis die Outlook-Nachricht aufploppte:
„Einladung – Persönliches Gespräch / GESCHÄFTSFÜHRUNG / heute 08:30 Uhr“
Kein Betreff. Kein Kontext. Nur diese Mischung aus Großbuchstaben und Ungewissheit, die in Markus eine milde Alarmbereitschaft auslöste. Persönliches Gespräch mit der GF? Das war entweder Beförderung oder Rüge. Beides fühlte sich nach Arbeit an.
Um Punkt halb neun stand er vor dem Eckbüro. Das Licht war gedämpft, der Geschäftsführer trank bereits den zweiten Espresso und sah aus, als hätte er gerade ein Strategiepapier in drei Sprachen verfasst – mit der linken Hand.
„Markus, setzen Sie sich. Ich komm gleich zur Sache.“
Das tat Markus. Und bereute es spätestens bei Satz drei.
„Wir brauchen jemanden für unser strategisches Schlüsselprojekt: *Service 2.0*. Eine digitale Plattform, die unseren Kundenservice auf ein neues Level bringt. Sie haben das. Sie bekommen freie Hand.“
Freie Hand. Markus fühlte sich wie jemand, der auf hoher See das Steuer übernommen hatte – bei Nebel, ohne Karte, aber mit klarem Ziel: *„Nordwest. Irgendwo dort ist die Zukunft.“* Er wollte noch nach Team, Zielbild, Budget fragen – doch der Geschäftsführer nickte bereits bekräftigend. „Sie sind die richtige Wahl. Setzen Sie einfach auf Agilität. Und holen Sie sich die Leute, die Sie brauchen.“
Markus verließ das Büro mit einer Mischung aus Stolz, Panik und dem festen Plan, ein neues Notizbuch zu kaufen. Eines mit dem Titel: **Projekt Phoenix**. Denn *Service 2.0* klang ihm zu sehr nach PowerPoint-Friedhof.
Auftaktbesprechung
Der Raum „Innovation“ lag am Ende des Gangs, gegenüber vom Techniklager. Ein Whiteboard. Ein Beamer. Und fünf mehr oder weniger verwirrte Personen.
Anna vom Kundenservice war da, weil sie eingeladen wurde. Tim von der IT war da, weil er glaubte, es gehe um ein Sicherheitsupdate. Jana aus dem Einkauf hatte sich in der Tür geirrt, aber blieb aus Höflichkeit. Lisa von HR war dabei, weil „es gut aussieht, wenn HR mit am Tisch sitzt“. Und Markus… war der Projektleiter.
„Also… danke, dass ihr da seid“, begann er. „Wir starten heute offiziell *Projekt Phoenix*.“ „Ich dachte, das heißt Service 2.0?“, warf Anna ein. „Ja, aber Phoenix klingt… mutiger“, sagte Markus. „Und inspirierender.“ „Oder nach verbrannter Erde“, murmelte Tim.
Markus hatte ein Zielbild vorbereitet. Bestehend aus drei Schlagwörtern:
- Kundenzentriert
- Digital
- Zukunftssicher
„Was genau ist das Ziel?“, fragte Anna. Markus sah auf seine Notizen. Dann aufs Whiteboard. Dann auf Anna. „Also… wir wollen die Prozesse verbessern. Und die Plattform moderner machen. Für den Kunden halt.“ „Und wie sieht das konkret aus?“ „Wir sind da noch offen. Es soll ja auch agil sein“, antwortete Markus.
„Aha. Offen agil.“ Tim von der IT grinste. Lisa von HR malte Kreise. Jana sah ihn freundlich an. Lisa machte sich Notizen. Oder zeichnete weitere Kreise. Tim begann leise zu pfeifen.
Sprints im Kreis
Zwei Tage später beschloss Markus: Wenn man kein klares Ziel hat, sollte man wenigstens wirklich agil sein. Erst kürzlich hatte er eine Schulung dazu besucht.
„Wir machen’s agil“, verkündete er beim zweiten Meeting. „Wir starten mit einem Sprint.“ „Sprint wohin?“, fragte Tim. „Na dahin, wo der Kunde steht.“ „Und wo steht der?“ „Im Mittelpunkt.“ „Dann drehen wir uns im Kreis.“
Markus hatte in seinem Online-Kurs vom Product Backlog gehört. Also startete er eines. Mit Post-its.
Auf den ersten drei standen:
- „Kundenerlebnis verbessern“
- „Plattformfähigkeit analysieren“
- „Serviceprozesse benchmarken“
Was genau das heißen sollte, wusste niemand. Aber es klang sehr vielversprechend.
„Wir machen’s agil“, wiederholte Markus. „Also legen wir los!“
Meetings, Meetings, Meetings – und niemand spricht miteinander
Meetings gab es viele. Entscheidungen: wenige.
- Montags: Jour Fixe.
- Dienstags: Abstimmungsrunde.
- Mittwochs: Kurz-Call zur Nachbereitung.
- Donnerstags: Agentur-Call.
- Freitag: Reflexions-Check-In. (Wurde meist abgesagt.)
Das Projektteam war ständig im Austausch – nur nicht zwingend miteinander.
„Hat jemand die API-Themen mit der IT besprochen?“ „Dachte, das war dein To-do.“ „Nee, ich war nur im CC.“ „Ich war nur der Impulsgeber.“ „Dann ist es wohl im Backlog.“ „Welches Backlog?“
Das Kanban-Board war inzwischen eine Collage aus vagen Aufgaben und farblich fragwürdigen Etiketten.
„Wir brauchen mehr Klarheit“, sagte Anna irgendwann. Markus nickte. „Ich schreib das auf. Als Story Point.“
„Wer hat das mit dem Einkauf geklärt?“ „Dachte, das war dein To-do.“ „Ich war nur im CC.“ „Ich war nur der Impulsgeber.“
Das Projektteam rotierte. Das Board wurde zur Tapete.
Der Prototyp – schön und nutzlos
Drei Wochen später meldete sich die Agentur. „Wir haben was vorbereitet. Ein klickbarer Prototyp.“
Niemand im Projektteam hatte etwas beauftragt. Aber die Einladung zur Präsentation klang freundlich, das Ergebnis herrlich konkret.
Auf dem Bildschirm erschien eine helle Oberfläche mit drei Icons: Start, FAQ, Kontakt.
„Und wo ist der Reklamationsbereich?“, fragte Anna. „Der war nicht im Scope“, sagte der Designer. „Aber das ist unser Hauptgeschäft.“ „Dann ist das ein Change Request.“ „Nein, das ist Alltag.“
Tim tippte auf seinem Handy. Später stellte sich heraus: Er hatte live ein Meme erstellt. Titel: „Wenn dein Projekt schneller klick- als brauchbar wird.“ KI war sein neues Ding.
Der große Auftritt
„Bericht zur Geschäftsführung – Projektstatus“, stand in Markus’ Kalender. Drei Ausrufezeichen.
Er saß die Nacht davor an seinen Slides. Es wurde eine visuelle Reise aus Pfeilen, Kreisen und Icons. 27 Folien insgesamt. Folie 7 war eine Animation. Er war stolz.
„Also“, begann er beim Termin. „Wir haben iterativ einen Lösungsraum eröffnet.“
„Und?“
„Wir sind auf dem Weg zur kundenzentrierten Exzellenz.“
„Aha. Was hat sich konkret für den Kunden verbessert?“
„Er… bekommt demnächst einen personalisierten Zugangspunkt.“
„Gibt’s schon was zu sehen?“
„Ein Prototyp. Klickbar. Noch nicht getestet. Und noch nicht abgesegnet.“
„Was ist dann fertig?“
„Die Idee. Und ein klickbares Menü.“
„Und was hat sich jetzt konkret für den Kunden verbessert?“, fragte der Geschäftsführer.
„Er bekommt… bald… etwas Persönliches.“
„Was genau?“
„Also… ein Menü.“
Der Geschäftsführer lehnte sich zurück. Dann sagte er ruhig: „Also ein digitales Luftschloss mit Pfeilsystem.“
Die Stille nach dem Sturm
Das Projekt wurde „vorübergehend eingefroren“. Das klang besser als *abgebrochen*, meinte die Kommunikationsabteilung.
Markus saß an seinem Platz. Er hatte kein Projekt mehr, aber dafür Zeit. Und er nutzte sie für etwas Ungewöhnliches: Nachdenken. Er schaute aufs Board. Da hing noch ein Post-it von Woche eins:
„Zielbild konkretisieren“ – mit Fragezeichen.
Anna hatte zu Beginn immer wieder nachgebohrt. Er erinnerte sich, nahm einen Stift und ergänzte darunter: „…aber diesmal wirklich.“
Dann ging er in die Küche. Und machte sich Kaffee. Zum ersten Mal ohne Projektverantwortung. Und es schmeckte besser, als er erwartet hatte.
Anna
Zwei Wochen später stand Anna in der Tür. „Ich hab da was. Nicht offiziell. Nur ein Gedanke.“ Sie hielt ihm eine A4-Seite hin. Kein Foliensatz. Keine Icons. Nur: Klarheit.
„Was der Kunde braucht. Was wir wirklich können. Was Sinn ergibt.“
Tim kam dazu. Dann Lisa. Dann noch ein Entwickler aus der Fachabteilung, den man nie eingeladen hatte – aber der „eigentlich eh schon alles mal gebaut hatte“. Und der sich einbringen wollte.
Zum ersten Mal wurde gesprochen. Echt gesprochen. Ohne Buzzwords. Ohne Rollen.
Markus hörte zu. Fragte. Schrieb mit. Und sagte zum ersten Mal in diesem Projekt: „Das klingt nach etwas, das funktionieren könnte.“ Und dieses Mal meinte er es wirklich. Er spürte: Zusammenarbeit beginnt nicht mit Methoden. Sondern mit Menschen, die reden. Und zuhören.
Drei Monate später startete *Projekt Service 2.1*. Ohne Heldenposen. Aber mit einem Ziel. Und einem Team, das wusste, warum es dabei war.
Epilog – In Markus Büro
In Markus’ Büro hängt heute eine alte Präsentationsfolie: Drei Pfeile. Keine Legende. Darunter steht: „Wenig war klar. Vieles war bunt.“
Wenn ihn jemand fragt, was er gelernt hat, sagt er: „Ganz einfach. Wer keine Richtung hat, braucht auch keinen Kompass. Wer nicht redet, braucht kein Tool. Und wer keine Fragen stellt, sollte keine Projekte leiten.“
„Oder anders ausgedrückt: Zusammenarbeit beginnt nicht mit Tools. Sie beginnt mit Menschen. Mit Fragen. Und mit dem Mut, nicht gleich eine Antwort haben zu müssen.“
Wozu tun wir das?
Heute startet er seine Projekte mit einem Projektstart-Workshop und einer ersten Frage auf dem Whiteboard: „Wozu tun wir das?“ Dann wird das Projekt gemeinsam durchdacht, eine gemeinsame Struktur entwickelt und das gemeinsame Vorgehen geklärt.
Fazit (für Projektmenschen und solche, die es werden wollen)
Projekte scheitern selten an Technik – aber oft an Kommunikation und dem Zusammenspiel der Mitstreiter. Dass sie nicht blockiert sind, dass sie nicht scheitern, das ist der Wert, den gute Zusammenarbeit schafft.
Dabei gilt, dass man Projekte nicht mit PowerPoint gewinnt – sondern mit Menschen, die ehrlich miteinander sprechen. Menschen, die gemeinsam einen Plan schmieden, wie ihnen gelingen könnte, was sie sich vorgenommen haben.
Mit Projekten ist mehr möglich, als man ahnt.
Ihr
Holger Zimmermann
Inhaber & Geschäftsführer von Projektmensch