Gefahr für etablierte Unternehmen: Disruption ist der Angriff von unten

Ein Essay darüber, warum Mercedes, BMW & Co. eher Kia anstatt Tesla fürchten sollten.

Sie kommt schleichend, wird anfangs belächelt und wenn man sie erkannt hat, ist es vielleicht schon zu spät. Ein bisschen Disruption und weg sind die Einnahmen. Was kann man dagegen tun, wie können Sie sich wappnen? Und wohl noch viel wichtiger: wie können Sie selbst disruptive Ansätze für Ihr Geschäft nutzen, so dass sich Ihre Wettbewerber ärgern? Was sind die Muster, die Disruption schaffen?

Disruption kann man in diesem Zusammenhang wohl am treffendsten mit „Zusammenbruch“ übersetzen. Wie radikal Innovation sein kann, davon hatten wir es hier im Blog-Artikel „Digital verändert alles. Wirklich alles. Alles!“, von der Schuhproduktion ohne Produktion. Das kann disruptiv sein, jedoch kommt Disruption oft schleichender, weniger aufmerksamkeitsheischend. Wo ein Wettbewerber disruptiv in einen Markt eintritt, haben etablierte Unternehmen ein dickes Problem, von dem sie oft noch gar nichts wissen. Denn der Blick der Etablierten geht in eine ganz andere Richtung, so dass die Bedrohung übersehen wird.

Erst einfache Produkte für das untere Marktsegment

Clayton M. Christensen hat den Begriff „Disruption“ in Bezug auf Geschäftsmodelle geprägt. Recht unsexy ist sein Beispiel mit den Mini-Stahlwerken. Bis die an den Markt kamen, waren die großen Stahlwerke die Alleinherrscher über den Markt der Stahlproduktion, denn sie konnten jede Sorte von Stahl herstellen. Einfache Qualität zu günstigem Preis ebenso wie höchste Qualität für gutes Geld.

Allerdings war die Marge bei den teuren Sorten besser, weshalb die etablierten Stahlwerke froh waren über die neuen Mini-Stahlwerke. Die konnten nur einfachen Stahl herstellen, womit sich die Großen auf die teuren Stahlsorten konzentrieren und den neuen Kollegen das billige Segment überlassen konnten. „Super!“, dachten sich die Chefs der Premiumanbieter, waren sie doch endlich dieses weniger lukrative Geschäft los. Über die Technologie lächelten sie, war die eigene Produktion doch so viel besser.


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Ahnen Sie bereits, was kommt? Bald waren die Mini-Stahlwerke Konkurrenzdruck ausgesetzt, mussten also in die Segmente mit höherwertigem Stahl ausweichen, um Gewinn zu machen. Also haben sie investiert, die Produktionsverfahren verbessert, höherwertigen Stahl produziert, um weiterhin Geld zu verdienen. Anfangs waren die Etablierten noch froh. Allerdings nur anfangs. Am Ende waren die alten Stahlwerk-Kolosse nahezu komplett verdrängt: die Spirale der Weiterentwicklung hatte kein Ende und so wanderte ein Marktsegment nach dem anderen hin zu den ehemals Kleinen, zu den anfangs Belächelten.

Dieses Muster hat sich in näherer Vergangenheit wiederholt, etwa bei Digitalkameras. Anfangs war die Bildqualität viel schlechter als bei Film, allerdings waren die Fotografien sofort verfügbar. Das hat anfangs einen kleinen Teil der Fotografierenden angesprochen, nicht alle. Wieder haben die Oberen der Film- und Kamerahersteller gelächelt. Den Rest der Geschichte kennen wir alle. Wer kennt denn noch die frühere Strahlkraft von Marken wie Agfa und Kodak?

Christensens Modell ist nicht unumstritten, wenn es darum geht, daraus Prognosen für den Bestand von Unternehmen abzuleiten. Das ändert nichts an der Tatsache, dass dieses Muster bereits mehrfach funktioniert hat. Womit sich die Frage stellt, ob die etablierten deutschen Autohersteller sich nicht eher vor Kia denn vor Tesla fürchten sollten. Denn Kia bedient dieses Muster viel deutlicher, als es Tesla tut. Dazu noch erhält Tesla deutlich mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, während sich Kia fast schon klammheimlich vom Hersteller einfacher, günstiger Fahrzeuge hin zum Premiumsegment gearbeitet hat.

Warum Mercedes & Co. eher Kia denn Tesla fürchten sollten

Die Übererfüllung von Wünschen ist es, die diesen Mechanismus in Gang bringt. Premiummarken wie Mercedes und BMW liefern solch eine Fülle an Funktionen, dass mancher Kunde viele davon gar nicht haben will. Solange es ausschließlich Fahrzeuge gibt, die diese Fülle an Funktionen bieten, kaufen die Kunden trotzdem. Sobald allerdings ein Anbieter in den Markt eintritt, der die Funktionsvielfalt auf das Wesentliche beschränkt und deshalb beispielsweise zu einem günstigeren Preis anbieten kann, kaufen erste Kunden bei diesem neuen Hersteller. Somit müssen sie nicht mehr bezahlen, was sie gar nicht wollten.

Gleichzeitig können Premiumhersteller kaum darauf verzichten, die Vielzahl moderner und innovativer Funktionen zu integrieren, weil sie sonst einen Großteil ihrer eigentlichen Zielgruppe verlieren würden. Sie sind verdammt dazu, immer bessere Produkte zu liefern und sich das entsprechend bezahlen zu lassen.

Für Disruption spannend ist in diesem Fall die Tatsache, dass es Käufer gibt, die mit viel weniger Leistung vollkommen zufrieden sind. Die sind die Zielgruppe für den disruptiven Anbieter, der damit erfolgreich in den Markt eintreten und gleichzeitig sein Investitionsvolumen klein halten kann. Diesen Fakt hat sich Kia zunutze gemacht und sich auf der damit erworbenen Basis stetig weiterentwickelt. Vor 25 Jahren startete Kia seine Markterschließung mit dem „Sephia“ und seinen 80 Pferdestärken (1).

Dieses Beispiel zeigt für mich, dass die Muster der Disruption nicht zwingend etwas damit zu tun haben, dass es eine neue, bahnbrechende Technologie braucht, um einen Markt zu erobern. In erster Linie kann eine clevere Strategie reichen, um sich den Effekt zunutze zu machen. Wobei unumstritten sein dürfte, dass sich neue Technologien anbieten, um sich auf diese Art einen Markt zu erschließen oder gar zu schaffen.

Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel auch, dass der Ansatz, den Christensen entdeckt hat, nicht unbedingt die komplette Verdrängung zur Folge hat, sondern auch als Markteintrittsstrategie taugt. Im Jahr 2019 hat Kia laut Statistik des Kraftfahrtbundesamtes rund zwei Prozent der Neuzulassungen von Fahrzeugen verbuchen können, was einem Zehntel dessen entspricht, was VW für sich verbuchen kann (2). Der Trend, den Kia hat, ist dabei ungebrochen und kennt nur eine Richtung: aufwärts.

Wie man aus der Gefahr eine Chance macht, oder: Die Kunst des Weglassens.

Wir haben eine besondere Perspektive auf solche Muster, da wir uns tagein tagaus damit beschäftigen, wie Wachstumsprojekte gelingen. Für solche Projekte sind Muster als Auftakt sehr nützlich, da sich daraus Ansätze entwickeln lassen, wo das nächste gute Geschäft lauern könnte.

  • Wer also sind die Kunden, die Sie gerne abgeben würden?
  • Wo gibt es vielleicht bereits einen Wettbewerber, der Ihnen Kunden abnimmt und worüber Sie eigentlich ganz froh sind?

Dort lauern Chancen für neues Geschäft. Wobei es durchaus legitim sein dürfte, sich dieselbe Frage aus der Perspektive eines Wettbewerbers zu stellen. Das Muster eignet sich durchaus, um im Verdrängungswettbewerb bestehen zu können.

Disruption geht für Christensen einher mit einer neuen Technologie, weshalb er ursprünglich auch von „disruptiver Technologie“ spricht. Die braucht es in vielen Fällen, um dieses „Segment der unbeliebten Geschäfte“, wie ich es nenne, zu erschließen. Neue Technologie ist jedoch nicht zwingend Voraussetzung, was das Beispiel Kia zeigt. Das führt zum zweiten Fragenkorridor:

  • Was müssten Sie unbedingt bieten, um in diesem Marktsegment Punkte zu machen und was übererfüllt die Bedürfnisse eines Teils Ihrer Kunden?
  • Was können Sie weglassen, um ein neues Segment für sich zu gewinnen?

Disruption ist ein Angriff von unten und hat deshalb schöpferische Kraft, weil damit im besten Fall eine Spirale aufwärts in Gang gesetzt wird. Ein vernachlässigtes Marktsegment kann für einen gelungenen Markteintritt ausreichend sein. Dabei kann es durchaus genügen, auf bestehende Technologie zu setzen. Die Digitalisierung lässt grüßen.

Die Kunst ist es dann auf die eigenen Ansprüche zu verzichten. Was nicht leicht fallen dürfte, wenn man die übliche Entstehung von Lastenheften und Backlogs betrachtet, in denen es meist darum geht, alle Wünsche aufzunehmen. Wohl dem, der sich beschränken kann.

Die Kunst des Verzichtens hat übrigens auch Sony geübt und damit um 1950 eine Disruption geschafft: mit dem Transistorradio hat das Unternehmen eine Gruppe von bisherigen Nicht-Käufern adressiert (3). Jugendliche hatten damit die Chance, Musik zu hören, was ihnen mit den teuren Röhrengeräten bis zu diesem Zeitpunkt nicht möglich gewesen war. Die waren schlicht zu teuer, zu groß, zu aufwändig. Die ersten Transistorradios hatten lange nicht deren Klangqualität, was der neuen Zielgruppe jedoch egal war, da es diesen Personen darum ging, überhaupt Musik hören zu können. Womit sich ein weiterer Fragenkorridor auftut, um Ansätze für Neugeschäft zu entwickeln:

  • Wo verzichten potenzielle Kunden derzeit auf die Nutzung der Leistung, weil ihnen etwa der Preis zu hoch, die Anfahrt zu weit, die Nutzung zu anstrengend ist?

Die Fragestellungen eignen sich bestens, um von einem interdisziplinären Team aus Experten und Laien, aus Internen und Externen, aus Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden systematisch untersucht zu werden. Am Ende stehen konkrete Einstiegspunkte in die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, die mehr sind, also nur lose gesammelte Ideen aus einer „Innovationswerkstatt“. Dass in diesem Zusammenhang aktuell die Nutzung digitaler Technologien weite Felder eröffnet, ist keine besonders überraschende Aussage. Vielleicht ist es also Zeit, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen?

Dazu können Sie sich eine kostenlose Anleitung für eine Innovationswerkstatt sichern: Wir bei Projektmensch entwickeln derzeit ein entsprechendes Workshopformat, um Ansätze für disruptive Geschäftsmodelle zu identifizieren. Schreiben Sie mir und ich schicke Ihnen kostenlos eine Vorlage samt Kurzanleitung, sobald wir die Entwicklung abgeschlossen haben: hz@projektmensch.com. Im Gegenzug freue ich mich über Feedback dazu, wie gut das Workshopformat bei Ihnen funktioniert hat.

Kennzahlen verderben die Disruption

Neben den Schwierigkeiten, die es den Produktmanagern und Entwicklungsteams machen dürfte, Verzicht zu üben, ist ein zweiter Stolperstein für Disruption im Kern aller etablierten Unternehmen fest angelegt: die Struktur der Kennzahlen. Die sind darauf ausgelegt, das bestehende Geschäft betreiben und weiterentwickeln zu können. Neues Geschäft fällt da durch das Raster.

Die Ursache für diesen strukturellen Fehler, der auch an anderer Stelle echte Innovation verhindert, ist offensichtlich: die Kennzahlen orientieren sich an der Struktur des bestehenden Geschäfts, etwa der entsprechenden Branche. Die hat jedoch gar nichts damit zu tun, was aus Kundensicht zum Kauf eines Produkts führt.

Kunden wollen bestimmte Dinge erledigen, etwa von A nach B kommen. Dieses Problem können Sie mit einem Auto lösen. Alternativ mit dem Fahrrad, dem Flugzeug, der Bahn, dem Bus, dem Roller, zu Fuß etc. Wer da nur den Automobilmarkt betrachtet, übersieht vielleicht ein neu entstehendes Segment. Christensen spricht in diesem Zusammenhang davon, die Märkte nicht wie üblich in Branchen zu segmentieren, sondern vielmehr nach den Aufgabenstellungen der Kunden zu unterscheiden. Diese Art der Segmentierung deckt sich sehr mit unserer Wahrnehmung, weil erst dadurch Verantwortung für die Problemlösung generiert werden kann.

Derselbe strukturelle Fehler trifft auch auf die interne Betrachtung zu, etwa wenn man die Produktivität betrachtet. Ein neues Leistungssegment tut sich schwer, die Produktivitätszahlen etablierter Leistungen zu erreichen. Das liegt in der Natur der Sache. Werden die neuen Segmente mit den bestehenden verglichen, führt das schnell dazu, dass diese vermeintlich nicht lukrativen Felder schnell wieder eingestellt werden.

Wenn Sie also neue, gar disruptive Ansätze nutzen wollen, um mit Ihrem Unternehmen zu wachsen, gibt es eine wichtige Voraussetzung: sie müssen das neue Geschäftsfeld vor den Kennzahlen des etablierten Geschäfts schützen. Was übrigens nicht bedeutet, den Gewinn aus dem Fokus zu rücken. Im Gegenteil: „Die Kapitalgeber müssen ungeduldig auf Gewinne schielen, um den anfänglichen Strategieprozess eines disruptiven Unternehmens zu beschleunigen.“ schreibt Christensen. Das deckt sich mit meiner Erfahrung: wo auf Gewinne geachtet wird, entsteht Fokus und Energie wird gebündelt. Es fällt leichter, auf Verzichtbares zu verzichten. Eine Grundvoraussetzung dafür, dass disruptive Ansätze gelingen.

Viel Erfolg!
Mit Projekten ist mehr möglich, als man ahnt.

Ihr
Holger Zimmermann
Inhaber und Geschäftsführer von Projektmensch


Quellen:

(1) https://www.autozeitung.de/kia-meldungen-196132.html#, 25. Januar 2020 

(2) https://www.autozeitung.de/zulassungsstatistik-140455.html#neuzulassungen_nach_marken_tabelle_, 25. Januar 2020

(3) https://www.christenseninstitute.org/blog/from-radios-to-electric-vehicles-targeting-nonconsumers-pays-off/, 25. Januar 2020

(4) Christensen, Clayton M.. The Innovator’s Solution: Warum manche Unternehmen erfolgreicher wachsen als andere, Vahlen 2018, Affiliate Link zu amazon.de.

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