Hört auf zu digitalisieren!

Bei Digitalisierung geht es darum, etwas digital zu machen? Irrtum. Es genügt nicht, sich um die technischen Aspekte zu kümmern. Weshalb wir das, was als "Digitale Transformation" bezeichnet wird, nicht den Programmierern überlassen sollten.

Ein Essay über Irrtümer in Sachen Digitalisierung und darüber, wie Digitalisierungsprojekte gelingen.

Verrückt ist das mit der Digitalisierung. Und das meine ich im ureigenen Wortsinne: verrückt. Nicht mehr an seinem Platz. Wir haben den Fokus verloren, worum es bei der Digitalisierung geht und wir überlassen, ganz nebenbei, die Gestaltung der Welt allein den Nerds. Dabei geht es gar nicht darum, zu digitalisieren. Und das hat mit dem Zweck von Unternehmen zu tun. Die Medienhäuser haben das schmerzhaft gelernt: erst haben sie separate Online-Abteilungen gegründet. Dann haben sie diese mühsam wieder integriert. Oder sind noch dabei. Wer ein paar Grundgedanken beachtet, kann sich diese oder ähnliche Schleifen sparen.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin ein echter Fan von Digitalem, habe als Wirtschaftsingenieur im technischen Schwerpunkt Informatik studiert. Wer mich dazu verführt, etwas zu programmieren oder eine Website zu erstellen, der muss damit rechnen, mich tagelang nicht mehr zu sehen. Weil ich dann ganz viel Freude habe bis das Ding steht. Und ich bin der festen Überzeugung, dass die technologische Entwicklung sehr viele positiven Seiten mit sich bringt, die das Leben angenehmer und nebenbei unseren Planeten besser machen. Doch ich möchte auch warnen: die Digitalisierung ist nicht das Ziel. Wer Projektteams beauftragt, zu digitalisieren, der bekommt mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas, das er nicht haben will. Etwas das nicht zu dem passt, was er schon hat. Etwas, das digital ist, aber eben nur das.

Dampfmaschinisierung

Um zu verstehen, was aktuell passiert, lohnt sich ein Blick zurück in der Geschichte, in die Zeit der Industrialisierung, als die Dampfmaschinen die Welt auf den Kopf stellten. Da wollten auch viele Unternehmer eine Dampfmaschine und wer sich eine leisten konnte, der lies sich eine bauen. Aber nicht, weil er eine Dampfmaschine haben wollte. Sondern weil er damit die Chance sah, sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen und sein Unternehmen voranzubringen.

Es ging nicht darum, zu dampfmaschinisieren. Die Dampfmaschine war Mittel zum Zweck, nicht das Ziel. Man konnte mit ihr günstiger produzieren, wurde produktiver, was nebenbei neue Geschäftsmodelle möglich machte und einen in die Lage versetzte, neue Absatzmärkte zu akzeptablen Kosten zu erschließen.

Das gleiche passiert später mit dem elektrischen Strom, der bessere Anlagen und konstante Beleuchtung rund um die Uhr möglich machte. Oder mit der Eisenbahn, mit der es plötzlich möglich war, die Güter zu akzeptablen Kosten an entfernte Orte zu bringen. Oder Rohstoffe entsprechend günstig zu transportieren. Entsprechend haben auch hier Unternehmen investiert, jedoch nicht mit dem Ziel, eine Eisenbahn zu haben oder Strom. Beides war wieder Mittel zum Zweck. Erik Händeler hat das in seiner „Geschichte der Zukunft“ (Amazon-Affiliate-Link) wunderbar zusammengefasst.

Der Sinn eines Unternehmens

Dieser kleine Unterschied, die leicht andere Perspektive ist wichtig, denn sie entscheidet am Ende über den Erfolg. Das hat wiederum mit dem Zweck eines Unternehmens zu tun:

„Ein Unternehmen ist dazu da, Kundenbedürfnisse zu befriedigen und dabei mehr Geld einzunehmen, als auszugeben.“ (Ich schreibe diese prägnante Definition Mark Poppenberg zu und bitte um einen Korrekturhinweis, falls ich mich irren sollte.) Und ja: im Idealfall macht die Befriedigung dieser Kundenbedürfnisse Sinn, gesellschaftlich und für uns als Menschheit. Aber das tut hier erst einmal nichts zur Sache.

Es geht um den Kunden und dessen Bedürfnisse.

Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Es geht in einem Unternehmen ständig darum, einen Wettbewerbsvorteil zu schaffen, zu erhalten und auszubauen. Nun stehen dafür digitale „Dinge“ zur Verfügung. Die kann ich nutzen, um Abläufe geschickter zu organisieren oder neue Leistungen zu erbringen, neue Geschäftsmodelle zu schaffen. Doch am Ende geht es um den Kunden. Was hat er davon? Wie nützt es ihm? Was wird leichter, besser, toller für ihn? Würde man bei einem dieser Digitalisierungsprojekte nebenbei an einer komplett analogen Idee vorbeikommen, die das erreichen würde, man wäre dusselig, diese zu ignorieren.

Integration statt Separation

Bei alldem steht am Ende immer noch das Unternehmen als Ganzes. Das Neue ist, wie auch immer gestaltet, Teil des Alten. Da liegt es nahe, diesen Aspekt von Beginn an mitzudenken. Wobei Integration nicht zwingend bedeuten muss, dass das Neue nahtlos im Bestehenden aufgeht. Manchmal kann es durchaus Sinn machen, das Neue von einer neuen Firma mit einem neuen Namen in die Welt tragen zu lassen. Auch das ist mit Integration gemeint: man hat am Ende ein schlüssiges Gesamtsystem.

Wer diesen Aspekt nicht mitbedenkt, läuft Gefahr, dass das Neue spaltet. Denn meist wird das Neue erst einmal als Bedrohung wahrgenommen. „Das kostet uns nur Arbeitsplätze!“ oder „Die rationalisieren uns doch nur weg!“ ist schnell in den Raum geworfen. Dass es besser ist, sich selbst wegzurationalisieren, als das durch einen Wettbewerber erledigen zu lassen, ist da kaum tröstlich. Wie also gelingt die Integration? Das ist keine sachlich nüchtern zu beantwortende Frage. Die Antwort darauf hat viel mit Emotionen zu tun, mit der Gefühlslage derer, die vom Neuen, dem vielleicht Digitalen direkt betroffen sind.

Sich damit auseinanderzusetzen, das hält im ersten Moment auf. Da ist es vermeintlich leichter, das Digital Lab auszugründen, in ein neues Gebäude zu stecken, am besten eines mit Mahnmal-Charakter der alten Industrie, und so die Anzahl der Berührungspunkte zu reduzieren. Ein Phyrrus-Sieg mit kurzer Halbwertszeit: die Frage der Integration in den Bestand, in Sache und in den Köpfen der Menschen, lässt sich nicht vermeiden. Neben der Technik braucht es auch diejenigen, die mit der Technik umgehen, die sie weiterentwickeln, die sie den Kunden verkaufen, dafür sorgen, dass das Neue auch funktioniert. Und das womöglich bei denselben Kunden, die bisher das Bewährte im Einsatz hatten.

Das Gesamtpaket der „Digitalisierung“

Nochmal das grundsätzliche Ziel von Digitalisierungsprojekten: am Ende bedienen wir den Kunden besser, als wir es heute tun, er hat mehr davon und wir erzielen damit Einnahmen – und wir nutzen dafür digitale „Dinge“. Das alles ist integriert und wir haben das Problem der Pfadabhängigkeit für uns gelöst. Herstellung, Service, Wartung etc. sind sichergestellt und entsprechen mindestens der Qualität, die unsere Kunden von uns erwarten. Die Mitarbeiter sind mit an Bord und gehen den Weg mit uns. Wir wachsen.

Was als „Digitalisierung“ oder „Digitale Transformation“ bezeichnet wird, sind Projekte zur Geschäftsmodellentwicklung, zur Markterschließung, zum Aufbau von Alleinstellungsmerkmalen, sind Projekte, mit denen Wachstum geschaffen wird. Ausgangspunkt ist die Unternehmensstrategie, aus der heraus definiert wird, wie ein Unternehmen wachsen und sich weiterentwickeln will. Die Ansoff-Matrix (siehe dazu auch „Der Ansoff-Faktor„) kann hierfür ein guter Ausgangspunkt sein, denn aus ihr heraus lassen sich klare Projektmandate definieren, wohin die Reise gehen soll: ein neuer Markt mit einer bestehenden Leistung etwa, weil diese sich mittels digitaler Vermittlung leichter internationalisieren lässt? Oder doch bestehende Kunden mit einer neuen Leistung, weil diese das Portfolio bestens ergänzt und Zusatzverkäufe möglich macht, weil der Kunde damit noch mehr von unserem Angebot profitiert (was nicht ausschließlich monetär gemeint ist).

„Digitalisierung“ als Titel solcher Vorhaben ist ungeeignet. Er suggeriert den falschen Anspruch.

Wer ein solches Vorhaben startet, der sollte „Digitalisierung“ als Überschrift vermeiden. Es geht um den Kunden, um dessen Bedarfe, nicht um die Technologie. Die steht lediglich zur Verfügung und wir wären irre, würden wir sie nicht nutzen.

Aus dieser Denkweise heraus lässt sich erkennen, um welche Themenfelder sich ein Projektteam kümmern sollte, wenn das Vorhaben ein Erfolg werden will:

  • Die Produkt und Leistung an sich. Ja, das ist logisch. Dazu gehören neben der technischen Ausgestaltung auch der gesamte Marketing-Mix mit Preismodell, Portfolio, Werbung, Service und Distribution. Außerdem muss klar sein, wie die Leistung zukünftig produziert und geliefert werden wird.
  • Die Integration in den Bestand. Damit verbunden sind unterem auch Klarheit über rechtliche Aspekte, etwa die Firmierung, Abläufe (Herstellung, Logistik, Abrechnung, Mahnung, Reklamation etc.), Schulung von Mitarbeitern sowie die Gestaltung des Wandels in den Köpfen sowohl der Mannschaft wie auch der Kunden.
  • Die Organisation des Projekts, die Projektführung, das Projektmanagement. Die hat bei dieser Art von Vorhaben besondere Bedeutung, da sie Antworten liefern muss auf den Umgang mit Unsicherheit samt Nicht-Wissen und sie dafür sorgen muss, dass viele unterschiedliche (externe) Experten möglichst reibungsfrei zusammenarbeiten, da sonst das Neue nicht gelingt.
  • Die Hilfsmittel und Hilfskonstruktionen auf dem Weg dorthin. So kann es durchaus vernünftig sein, eine neue Leistung in einem neuen Markt zu Beginn unter anderer Marke und von separater Firma erbringen zu lassen, um ehrlichere Rückmeldung zu erhalten und das Bestehende weniger zu gefährden. Die dafür gegründete Firma ist in diesem Sinne eine „Hilfskonstruktion“, weil sie nur während der Projektlaufzeit, der Aufbauphase benötigt und danach wieder „rückgebaut“ wird.

Wenn ich mir Projektstrukturpläne und Backlogs solcher Vorhaben anschaue, dann greift diese Liste immer noch zu kurz. Allerdings macht sie schnell deutlich, dass sogenannte „Digitalisierungsprojekte“ nur zu einem kleinen Teil aus Digitalem bestehen. Wer sich das bewusst macht, der hat schon Wesentliches für sich und sein Team gewonnen.

In der Praxis erlebe ich leider nicht selten das Gegenteil: da wurde „Digitalisierung“ beauftragt, ein Team macht sich auf, zieht auf Messen und durchs Silicon Valley, schafft mittels Design Thinking dutzende Ideen, dann ein Minimum Viable Product, eine digitale Erstversion von Etwas. Das wird auf der Leitmesse präsentiert, als Highlight, und verschwindet danach wieder sang- und klanglos. Warum? Weil digital allein nicht genügt. Es geht darum, dem Kunden etwas zu bieten, nicht darum, auf Teufel komm raus Digitales zu nutzen. Und es geht für ein Unternehmen auch darum, Einnahmen mit dem Neuen zu generieren. Was man so nebenbei nicht vergessen sollte, den manches Digital Lab hat – zumindest von außen betrachtet – ein bisschen was von einem Ponyhof.

Was auch immer Sie daraus noch machen. Schreiben Sie mir. Ich bin neugierig.

Mit Projekten generiert man Wachstum. Mit Projekten ist mehr möglich, als man ahnt. Wenn man es geschickt angeht.

Ihr
Holger Zimmermann
Projektmensch

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Ein Kommentar bei „Hört auf zu digitalisieren!“

  1. Unternehmerischer Erfolg ist dauerhaft nur möglich, wenn man bereit ist seine Prämissen und sein Geschäftsmodell immer wieder zu hinterfragen. Man muss sich quasi immer wieder neu erfinden. Dabei fließen dann natürlich State-of-the-Art-Techniken (wie z.B. Digitalisierung) ein, aber eben nicht als Selbstzweck, wie du so schön feststellst, sondern als Werkzeuge. Digitalisierung gehört in die Werkzeugkiste und nicht in die Zielsetzung.
    Der nächste Fehler liegt darin, dass wer sich heute auf Digitalisierung stürzt sicher die nächste Entwicklung (was auch immer sie sein mag) bereits verschläft. Vielleicht liegen die nächsten wichtigen Trends bei der Nachhaltigkeit, sozialen oder politischen Themen (Brexit, Handelskriege oder militärischen Auseinandersetzungen). Da braucht man vielleicht auch Digitalisierung, aber unter ganz anderen Vorzeichen und mit ganz anderen Einsatzgebieten. wenn wir uns hinterfragen, muss diese Auseinandersetzung offen sein, darf nicht voreilig auf einen aktuellen Trend wie Digitalisierung verkürzt werden.

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