In meinen Seminaren ist es immer wieder eine Frage, die viele Teilnehmer brennend interessiert: was ist denn nun ein „Projekt“ und was ist keins? Derzeit herrscht vielerorts die Projektitis, alles wird zum Projekt, selbst die kleinste Aufgabe. Da beschleicht viele das Gefühl, dass das irgendwie auch nicht Sinn der Sache sein kann. Die allgemein verfügbaren Definitionen (etwa hier oder hier oder hier) helfen meist nicht wirklich weiter. Sie sind viel zu allgemein und abstrakt. „Einmaligkeit“ etwa ist ein häufig genanntes Kriterium. Kramen Sie mal in Ihrer Aufgabenliste, wie viele Vorhaben „einmalig“ sind. Ähnlich geht es mit anderen Kriterien, etwa der zeitlichen Begrenzung, die in vielen Definitionen eine Schlüsselrolle spielt.
Aus meiner Sicht gibt es zwei Gruppen von Projekten, die diesen Namen verdienen:
- Vorhaben, die aufgrund der Natur der Sache als Projekt betrachtet werden müssen
- Vorhaben, die ich bewusst (und willkürlich) als Projekt durchführen möchte, da dadurch Ergebnisse möglich werden, die man im Rahmen eines Prozess nicht schaffen würde
Gerade die zweite Kategorie finde ich persönlich sehr spannend, da man durch die projektorientierte Arbeitsweise Energie sehr stark fokussieren, kreative Leistung abseits der gewohnten Bahnen möglich machen und Veränderungen umsetzen kann, die etwa im Rahmen eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses nicht möglich wären. Doch zuerst die Vorhaben, die aufgrund ihrer Begebenheiten Projekte sind.
Natürliche Projekte: Vorhaben, die aufgrund der Natur der Sache als Projekt betrachtet werden müssen
Es gibt unglaublich viele Definitionen was nun ein Projekt ist und was nicht. Wohl kein Vorhaben wird all diesen unterschiedlichen Kriterien gerecht. Allerdings können diese Kriterien helfen herauszufinden, in welche Richtung das Pendel eher ausschlägt: Projekt oder Prozess?
Man stelle sich eine Waage vor. Jedes Mal, wenn ein Kriterium – oder besser: ein Indikator – darauf hindeutet, dass ein Vorhaben ein Projekt ist, lege ich ein Gewicht in die linke Schale. Jedes Mal, wenn ein Indikator eher dafür spricht, dass ein Vorhaben als Prozess betrachtet werden kann, lege ich ein Gewicht in die rechte Waagschale. Am Ende meiner Betrachtung zeigt der Stand der Waage, ob es sich eher um ein Projekt oder eher um einen Prozess handelt. So wird man auch der Grauzone gerecht, die keine eindeutige Unterscheidung zulässt, und hat doch ein Hilfsmittel für die Entscheidung an der Hand.
Als Indikatoren schlage ich vor:
- Einmaligkeit vs. Wiederholung
- Zeitliche Begrenzung vs. Unendlichkeit
- Komplexität vs. „ohne Nachdenken begreifbar“
- Team vs. Einzelperson
- Klarer Fokus auf ein Ziel vs. kontinuierliche Fortschreibung (auch der Ziele)
- Separates Budget vs. Abteilungsbudget
- Neuartigkeit vs. bekannt
- Das Team übernimmt nach Ende des Vorhabens andere Aufgaben vs. das Team arbeitet an denselben Aufgaben weiter
- Risikoreich vs. absehbar
- „Ohne verwendbare Unterlagen“ vs. Checkliste
- Vielseitiges Know-how vs. eine Fachdisziplin
- Abteilungsübergreifend vs. abteilungsintern
- Hohe kreative Leistung erforderlich vs. Entwicklung in kleinen Schritten
- Nicht standardisierbar vs. kleinteiliger Standardprozess (der nicht die Projektmanagement-Schritte beschreibt)
- Hohe strategische Bedeutung vs. operatives Geschäft
- Temporäre Organisation vs. „am üblichen Arbeitsplatz“
- Unternehmertum vs. Abarbeitung einer Sache
Die linken Argumente sprechen eher für Projekt, die rechten für Prozess. Das Kriterium der begrenzten Ressourcen, das oft angeführt wird, halte ich nicht für hilfreich, da dies für alle möglichen Aufgaben gilt und auch für die Unternehmung an sich. Außerdem möchte ich anmerken, dass eine zeitliche Begrenzung nicht zwingend mit der Vorgabe eines Endtermins einher geht. Wesentlich ist vielmehr die Tatsache, dass die Arbeit am Vorhaben endet und nicht dauerhaft weitergeführt wird. Dementsprechend kommt der Abgrenzung eines Projekts auch besondere Bedeutung zu. Aber das soll nicht Bestandteil dieser Abhandlung sein.
Was es bedeutet, wenn ein Vorhaben ein Projekt ist
Wenn man erkannt hat, dass ein Vorhaben eher als Projekt zu behandeln ist, ist das ein deutliches Indiz dafür, dass die Methoden des Projektmanagement von Nutzen sein werden. Wenn es sich um ein Projekt handelt, werden die Erfolgswahrscheinlichkeit durch die Anwendung der entsprechenden Werkzeuge steigen, der Aufwand und die Reibungsverluste sinken und die Projektlaufzeit eine kürzere sein. Umgekehrt wird es vermutlich wenig Sinn machen etwa einen Projektplan für ein Vorhaben zu entwickeln, das eindeutig kein Projekt ist. Der Aufwand wäre nur von geringem Nutzen oder gar schädlich.
Die Einschätzung der Indikatoren ist eine subjektive. Für die eine Person wird ein Vorhaben ein Projekt sein, das für eine andere – vielleicht aufgrund ihrer Erfahrung mit der Aufgabenstellung – kein Projekt ist. Genau diese subjektive Entscheidung ist wichtig, denn der erstgenannten Person werden die Projektmanagement-Tools helfen. Es geht nicht um richtig oder falsch, es geht um die persönliche Wahrnehmung. Die entscheidet dann darüber, welche Werkzeuge in welcher Tiefe zum Einsatz kommen. Und am Ende gilt: die Werkzeuge des Projektmanagement sollen das Vorhaben erfolgreicher und die Arbeit des Projektteams leichter machen, keinen zusätzlichen Aufwand produzieren. Projektpläne nur zu Zwecken der eigenen Profilierung – ein „schönes“ Gantt-Diagramm an der Wand – sind Unsinn in Reinform.
Künstliche Projekte, um möglich zu machen
Wer etwa Geschäftsmodelle verändern oder gar neue einführen will, stößt häufig an die Grenzen des „Establishment“. Neues macht Angst, Altbewährtes gibt Sicherheit. Die Aufgabe selbst geht im Tagesgeschäft unter, da operative Anforderungen ganz klar „Priorität“ haben.
Oft ist ein „Produkt-Entstehungs-Prozess“ oder ein „Innovationsprozess“ Grundlage für derartige Aufgabenstellungen. Eine Abteilung hat zu einem Zeitpunkt den Ball, etwa die Entwicklung, die diesen bearbeitet. Andere Abteilungen arbeiten im Wissen darum an anderen Aufgaben weiter und warten, bis der Ball wieder im eigenen Fall landet. Man arbeitet von Sitzung zu Sitzung und damit von Protokoll zu Protokoll. Das jeweils letzte wird zur Vorlage für die nächste Besprechung. Nicht wenige Unternehmen werden auf Basis der oben aufgeführten Indikatoren zur Einschätzung kommen, dass es sich tatsächlich eher um einen Prozess als um ein Projekt handelt (obwohl das Vorhaben im Alltag als „Projekt“ betitelt wird). Man versucht zu standardisieren, wohl merkend, dass man damit immer wieder an Grenzen kommt.
In einem solchen Falle lohnt es sich, das Vorhaben „künstlich“ zu einem Projekt zu machen. Eine geeignete Projektorganisation vorausgesetzt, hilft man den Beteiligten damit, aus dem Trott des Alltags heraus zu treten. Man versieht eine definierte Mannschaft mit einem zeitlich begrenzten, definierten Auftrag. Man nimmt diese Mannschaft im Idealfall – zumindest in begrenztem Rahmen – aus dem Alltag heraus. Das führt zu neuen Ideen, neuen Ansätzen, neuen Perspektiven. Der klare Fokus in Form des Projektziels richtet und bündelt die Energie. Das Ergebnis wird besser und weitreichender als in der eher prozessorientierten Arbeitsweise.
Mit den geeigneten Instrumenten versehen, kann man dafür sorgen, dass das Ergebnis „ganzheitlicher“ wird, da Bälle nicht einfach von Abteilung zu Abteilung geworfen werden, sondern man sich abteilungsübergreifend gemeinsam an eine Aufgabenstellung macht. Eine gemeinsame Planung zu Projektbeginn sorgt für Abstimmung und gemeinsames Verständnis. Die Planung hilft, die Konsequenzen und Zusammenhänge bis zum Abschluss des Vorhabens zu erkennen und nicht nur bis zum Horizont der eigenen Abteilung zu agieren.
Was für die Entwicklung von Geschäftsmodelle gilt, gilt auch für andere Aufgabenstellungen, die vielleicht noch viel mehr in die Rubrik Prozess passen: kontinuierliche Verbesserungsprozesse etwa oder die Weiterentwicklung einer Stadt im Rahmen eines Arbeitskreises, die Fortentwicklung einer bereits eingeführten Software, die weitere Finanzierungsrunde, die Verhandlung des Jahreseinkaufs oder die Fortschreibung von Bedarfsplänen in Unternehmen und Verwaltungen. Durch das Bündeln der Energie durch künstliche Projekte werden Sprünge nach vorne möglich, während die Prozesssicht eher zu stetigen kleinen Fortschritten führt. Außerdem kann man ein Projektteam eher sanft dazu zwingen, ein Thema selbst zu denken. Die Entscheidung, diesen Weg zu gehen, sollte allerdings sehr bewusst gewählt werden. Andernfalls herrscht schnell wieder Projektitis.
Ihr
Holger Zimmermann
Projektmensch
[flattr /]
Ebenfalls empfehlenswert zu lesen:
- Wann ist ein Projekt ein Projekt?, pm-blog.com
- Oder die ältere Version davon: Projekt: Ja oder nein?, Projektmanagement-Blog
- Eine allgemeine Sicht der PM-Welt mit der Projekt-Definition als Ausgangsbasis: Mindmapping PM, betterprojects.net
Foto: Stacey Newman, iStockphoto
[…] Projekt oder Projektitis? Versuch einer Definition. […]
[…] nach dem gearbeitet wird, muss erst noch entwickelt werden. Projekte sind per Definition einmalig. Das muss eine Denkschleife vorangestellt werden. Dann sind Absprachen darüber nötig, […]
[…] Projekt oder Projektitis? Versuch einer Definition, Projektmensch-Blog, Juni […]