Wird mich der Aufsichtsrat feuern?

Wird mich der Aufsichtsrat feuern? Kündigungsschreiben.

Es war klar, wenn auch nicht ausgesprochen: Wenn dieses Projekt nicht doch noch gelingen würde, würde Andreas S.*, der Vorsitzende des Vorstands, gehen müssen. Seit Jahren hatten die führenden Köpfe des Unternehmens an der neuen Generation der Maschinensteuerung getüftelt. Die Präsentation auf der nächsten Leitmesse der Branche schien jedoch völlig unrealistisch und damit die komplette Investition verloren. Erst drei simple Zeilen in einer Excel**-Tabelle lösten die Hoffnung aus, doch noch erfolgreich sein zu können.

Als wir kurzfristig engagiert wurden, uns das Projekt anzuschauen und eine Rückmeldung zu geben, ob da noch was zu machen wäre, konnten wir den Frust und die Verzweiflung der Menschen in den Gesichtern ablesen. Bedröppelt berichteten sie von den fehlgeschlagenen Versuchen, die – für die damalige Zeit – revolutionäre neue Steuerungssoftware aus der Vorentwicklung auf die Serienmaschinen zu bringen. Vorentwicklung und Marketing hatten einen handfesten Streit darüber, wer an dem Disaster Schuld habe und wer welche Aufgaben nicht gemacht.

Desaströse Lage, unklares Ziel & ein Standard-Fehler

Die Situation war wirklich desaströs: Es war völlig unklar, was eigentlich erreicht werden sollte. Nicht einmal welche Maschinentypen mit dem neuen Konzept ausgestattet werden sollten, war definiert. Ebenso unklar war, was es noch zu tun gab und wer für was verantwortlich zeichnete. Die Kommunikation war auf Basis der Abteilungsbesprechungen organisiert und Schnittstellen waren damit wirklich Schnitt-Stellen. Keiner glaubte mehr daran, dass das noch was werden könnte. Auch Vorstand und Aufsichtsrat nicht, wobei sie noch einen Versuch wagen wollten, das Ding zu drehen.

Für uns war das Schlimme an dieser Situation, dass dieses international tätige Maschinenbau-Unternehmen einen Standardfehler gemacht hatte: Die Verantwortlichen versuchten, etwas Neues zu schaffen, und wollten dafür die Routineorganisation in Form der Abteilungen nutzen. Oft mussten wir Sätze wie „Dafür ist das Marketing zuständig!“ hören. Das Problem daran: Routineprozesse sind völlig untauglich, um etwas Neues zu schaffen.

Um Neues zu schaffen, braucht es die Zusammenarbeit als bereichsübergreifendes Projekt. Erst Kollaboration über die Bereichsgrenzen hinweg auf ein gemeinsames Ergebnis hin, ist in der Lage, Innovation zu schaffen. Sonst hängen Aufgaben in der Luft und um Verantwortung wird gestritten. Immer. Nicht nur in diesem Fall.
Um es vorwegzunehmen: Als wir neun Monate später auf die Messe kamen, liesen die Mitstreiter selbst Kunden stehen, um uns mit stolzer Brust zu zeigen, was ihnen wieder der ursprünglichen Erwartung doch noch gelungen war. Am Ende hatten sie es geschafft, mehr Maschinentypen umzustellen, als sie sich selbst zugetraut hatten.

Aus Sicht vieler Kollegen im Unternehmen waren die Projektteam-Mitglieder fast schon Helden. Die Kunden waren begeistert, die Auftragsbücher füllten sich besser als erwartet. Andreas S., der Vorstandsvorsitzende, wirkte entgegen seiner eigenen Befürchtungen noch einige Jahre in seiner Rolle und das mit Rückenwind aus dem Aufsichtsrat. Schließlich war ihm der Turnaround doch noch gelungen.


Abonnieren Sie jetzt kostenlos unseren Projektbrief und erhalten Sie weitere Tipps und Tricks rund um Zukunftsprojekte per E-Mail geliefert.


Das Engagement, die Bereitschaft, alles zu tun, und der unbedingte Wille, das Ding noch zu drehen, waren wesentliche Bedingungen, um das Vorhaben doch noch gelingen zu lassen. Wie auch die vorhandene Fachexpertise der Mitstreiter und die direkte Beteiligung der Vorstände, damit Entscheidungen schnell getroffenen werden konnten. Ausreichend waren diese Punkte jedoch noch nicht.

Mit drei Zeilen in Excel dem Frust entgegen

Erst klare, gemeinsam vereinbarte Projektziele und drei Zeilen Excel brachten am Ende den Wandel, um aus einer frustrierten Truppe ein handlungsfähiges, selbstorganisiertes Projektteam zu machen.

Uns war klar, dass wir das Ding niemals alleine drehen konnten. Vor allem nicht als Externe ohne Kenntnis der technischen Details. Nur wenn es uns gelingen würde, alle Experten für die verschiedenen Maschinentypen so zu organisieren, dass sie selbstständig dafür sorgen würden, die neue Steuerungsgeneration auf den jeweiligen Maschinentyp zu übertragen, hatten wir alle miteinander eine Chance. Dazu mussten unter anderem auch die Einkäufer und die Marketing-Leute sowie der Vertrieb mit ins Boot, damit am Ende ein rundes Paket auf der Messe präsentiert werden konnte.

Also klärten wir als erstes, auf welchen Ziel-Zustand wir hinarbeiten wollten. 32 Maschinentypen sollten zur Messe verkaufsfähig sein, also technisch und mit Preisschild samt Werbematerial lieferfähig bereitstehen. Das wurde zwischen allen Mitstreitern, von Sachbearbeitung bis Vorstand, gemeinschaftlich als sinnvolles, eventuell noch machbares Ziel vereinbart. Das Ziel interpretierten wir als ein Versprechen aller Beteiligten, alles in deren Kräften Stehende zu tun, um dies möglich zu machen. Besiegelt wurde der Pakt mit Unterschriften auf einem Bogen Flipchart-Papier mit Karos.

Pro Maschinentyp baten wir dann die jeweiligen Spezialisten und deren Teams, alle Aufgabenpakete aufzulisten, die noch erledigt werden mussten. Alle, ohne Ausnahme, egal, wer sie erledigen sollte. Dann kamen Namen dran und über den Vorstand sorgten die Verantwortlichen dafür, dass diese Personen alle Kapazität bekamen, die irgendwie bereitgestellt werden konnte. Das war wichtig, um fokussiert am Projekt arbeiten zu können. Die Teams bekamen damit verbunden den Auftrag, das wichtigste und dringlichste Aufgabenpaket sofort zu starten. Die Einkäufer übernahmen die Abstimmung mit den Lieferanten, die jedoch anders als üblich wie Mitglieder des erweiterten Projektteams in die Arbeit eingebunden wurden.

Projektpläne waren bis dato in diesem Unternehmen unüblich oder, wenn vorhanden, lediglich das, was wir als „schöne Zeichnungen“ betiteln: Balkendiagramme, die geliefert werden, um einen Vertragsbestandteil zu erfüllen, jedoch ohne praktischen Nutzen. Damit war eine zeitliche Steuerung, war echter Vortrieb unmöglich herzustellen.

Deshalb extrahierten wir aus den vorhandenen Aufgabenlisten und Visualisierungen ein kleinteiliges Muster an notwendigen Zwischenergebnissen, die jeder Maschinentyp erreichen musste. So stand da etwa „Hardware-Bestandteile vollständig geliefert“ oder „Maschinentest abgeschlossen“. Insgesamt 17 dieser Mini-Meilensteine hatten wir für die restlichen siebeneinhalb Monate identifiziert.

Diese 17 Meilensteine kamen in eine Excel-Tabelle. Jeder Meilenstein stand oben als Überschrift in einer Spalte. Darunter drei Zeilen, deren erste wir als „Plan“ bezeichneten. Wir baten die Teams, uns die Termine zu nennen, zu denen sie die jeweiligen Mini-Meilensteine erreicht haben wollten.

„Termine nennen? Auf keinen Fall!“ Oder doch?

Was für ein Aufschrei! Die Teammitglieder hatten Angst vor negativen Konsequenzen, falls sie die Termine nicht einhalten würden. Das war durchaus eine realistische Einschätzung der Lage, betrachtete man das bisher übliche Vorgehen in diesem Unternehmen. Erst als wir uns persönlich dafür verbürgten, alles zu tun, um negative Konsequenzen zu vermeiden, kamen die Rückmeldungen. Wer sich schwer tat, die Termine einzuschätzen, den luden wir ein, zu würfeln, sprich: diese Team sollten irgendeine Annahme treffen. „Besser eine schlechte Einschätzung als keine“, lautete das Motto.

Ab diesem Zeitpunkt kam Schwung in die Sache. Wir trafen uns alle zwei Wochen mit Vertretern aller Maschinentypen-Teams, um uns den Fortschritt gemeinsam anzuschauen. Der Vorstand war mit dabei, damit wir im Bedarfsfall notwendige Entscheidungen sofort treffen konnten. Die Teams waren aufgefordert, in der zweiten Zeile der Excel-Tabelle die echten Termine einzutragen, also wann die Mini-Meilensteine tatsächlich erreicht worden waren. Außerdem sollten sie in derselben Zeile für die noch nicht erledigten Punkte eine aktuelle Prognose auf Basis der neuen Ist-Werte ergänzen.

Ich finde es heute noch faszinierend, was das damals ausgelöst hat: In dem Moment, als die Teams die Echt-Werte den Plan-Werten gegenüber gestellt hatten, war ihnen klar, was zu tun war. Wo Teams langsamer waren, mussten sie die Sache beschleunigen, etwa über Überstunden oder mittels Samstagsarbeit. Der Vorstand sorgte für die entsprechenden Entscheidungen und die notwendige Unterstützung aus anderen Unternehmensbereichen. Wo Teams etwas Luft hatten, unterstützen sie die Teams, bei denen die Lage enger war.

Samstagsarbeit und Schulterklopfen

Für diese neue, überarbeitete Prognose, die die entsprechenden Reaktionen wie etwa Samstagsarbeit berücksichtigte, war die dritte Excel-Zeile bestimmt. Sie zeigte, wie das jeweilige Team das eigene Teilprojekt trotz aller Widrigkeiten gut ins Ziel bringen wollte.

Alle zwei Wochen, beim Jour Fixe, präsentierte ein Verantwortlicher jedes Teilprojekt-Teams den aktuellen Stand in Form der Excel-Tabellen. Die ersten zwei, drei Durchführungen war das eine zähe Angelegenheit. Doch immer mehr Teams hatten bereits vor der Besprechung die Werte gegenübergestellt und sogleich für die notwendigen Reaktionen gesorgt. In der Besprechung war damit gar nicht mehr viel Diskussion nötig. Das führte dazu, dass immer stärker das Gefühl aufkam, dass man es gemeinsam doch noch schaffen könnte. Immer mehr der eher pessimistisch eingestellte Kollegen aus dem Unternehmen begannen damit, den Weg frei zu räumen, zu unterstützen. Sie spürten den Stimmungsumschwung.

Die Minen hellten sich immer mehr auf, immer öfter wurde gelacht und gefeixt. Bis zu diesem Strahlen in den Gesichtern, als am Ende 35 anstatt 32 Maschinentypen auf der Messe präsentiert werden konnten und die Resonanz der potenziellen Käufer einfach nur glücklich stimmte. Was ein klares „Nein!“ als Antwort auf die Frage mit sich brachte, ob der Aufsichtsrat den Vorstand feuern würde. Statt dessen gab es ein deutliches Schulterklopfen.

Manchmal sind Projektteams eben doch Helden, die einen echten Coup landen und damit die Zukunft des Unternehmens bauen. Das braucht dann jedoch Projektleiter, die nicht im Weg stehen, sondern durch gute Organisation dafür sorgen, dass die Fachexperten einen guten Job machen können. Mit Projekten ist mehr möglich, als Sie ahnen!

Ihr
Holger Zimmermann
Inhaber & Geschäftsführer Projektmensch


* da die Geschichte doch sehr nahe am Original ist und ich niemand aus Versehen in ein schlechtes Licht rücken will, habe ich einen anderen Namen, nicht den echten, verwendet; der Vollständigkeit halber möchte ich anmerken, dass der Vorstandsvorsitzende dieses Projekt von seinen Vorgängern geerbt hatte.
** Excel ist ein Produkt von Microsoft und war an dieser Stelle tatsächlich das Software-Werkzeug der Wahl, wenn es auch ursprünglich kein Projektmanagement-Werkzeug ist; es hätte jede andere Tabellenkalkulation sein können

(Visited 426 times, 1 visits today)