Emden und Idepap waren schweigend bereits ein paar hundert Meter am Wasser entlang gegangen. Es war noch angenehm warm. Man merkte Emden an, dass sein Gehirn auf Hochtouren lief. „Komplexität ist so wenig greifbar. Warum müssen wir uns überhaupt damit auseinandersetzen?“
„Komplexität ist einfach da. Eine Auseinandersetzung mit der Komplexität selbst ist vermutlich nicht nötig.“ erwiderte Idepap. „Allerdings stellt sich die Frage, wie wir unsere Arbeit und unsere Organisationen weiterentwickeln, wenn wir merken, dass die bisherigen Modelle an ihre Grenzen kommen. Ich finde, dass man gerade im Anlagen- und Maschinenbau merkt, wie sich die Dinge weiterentwickeln. Dort gibt es komplizierte Teile, wie etwa das mechanische Grundgerüst einer Maschine. Da muss ich tüfteln, um einen runden Ablauf hinzubekommen. Man kann jedoch hoher Sicherheit sagen, dass man das hinbekommen wird. Dann kommt die Steuerungssoftware samt Auswertungsdatenbank dazu, die in das Netzwerk des Betreibers integriert werden soll. Der Betreiber hat eine für den Hersteller der Anlage unbekannte IT-Landschaft. Man kann Auswirkungen vermuten, jedoch nicht mehr mit Sicherheit vorhersagen.“
Emden überlegte. „In der Tat. Jetzt kann ich nicht mehr in dem Sinne planen, dass ich damit mein Vorgehen mit recht hoher Sicherheit beschreiben kann. Zumindest nicht mehr auf lange Sicht. Maximal den nächsten Schritt, der vermutich mehr ein Experiment oder eine Art Test sein dürfte, um herauszufinden, ob bestimmte Annahmen tragen.“
„Aus meiner Sicht ist das vollkommen zutreffend“, antwortete Idepap und machte einen kleinen Satz über den Bach hinweg, dem sie gefolgt waren. Es zog ein wenig zu und Idepap musste sich kurz orientieren, um abschätzen zu können, wie weit sie bereits gelaufen waren. Er war froh, dass er seine Wanderschuhe angezogen hatte und die leichten Bürotreter im Kofferraum lagen.
„Langsam verstehe ich, was es mit diesen agilen Vorgehensmodellen auf sich hat.“ Emden folgte Idepap über den Bach. „Es wäre völlig unmöglich zu sagen, was nach diesem Experiment getan werden muss, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Oder zumindest ist die Gefahr hoch, dass ich den Plan in die Tonne treten muss.“ Idepap nickte zustimmend. „Wichtig finde ich in diesem Punkt die Bezeichnung ‚Vorgehensmodell‘. Oft wird das mit dem Begriff ‚Projektmanagement‘ gleichgesetzt, was ich für gefährlich halte. Insgesamt denke ich immer öfter, dass wir für all diese Methoden und Denkansätze neue Begriffe brauchen.“
„Inwiefern?“ Emden war stehengeblieben und schaute fragend in Idepaps Richtung, der sich gerade den rechten Schuh band. Seine Schnürsenkel waren eine Kathastrophe. Allerdings vergaß Idepap stets nach dieser während seiner Wanderungen regelmäßig auftretenden Erkenntnis neue zu besorgen.
„Wenn ich die Diskussionen der vergangenen Monate verfolge, waren viele Extraschleifen darauf zurückzuführen, dass mehrere Personen denselben Begriff verwendet, jedoch jeweils verschiede Dinge darunter verstanden hatten. Das fängt mit dem Begriff ‚Projektmanagement‘ an und hört bei ‚Plan‘ noch nicht auf. Der eine denkt bei ‚Plan‘ sofort an von einer höheren Instanz erstelltes, starres, einzuhaltendes Stück Papier, dessen Einhaltung streng überwacht wird. Abweichungen werden sanktioniert. Sein Gegenüber versteht darunter schlicht ein Visualisierungsinstrument, das hilft, Dinge zu besprechen und abzustimmen. Ein Stück Papier, das ständig aktualisiert und weiterentwickelt wird – und somit auch den Erkenntniszugewinn sichtbar macht.“
„Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie eine solche Diskussion verläuft“, kommentierte Emden. „Da wird es schwer, etwas Konstruktives zu entwickeln.“ „Und dazu kommt noch die Tatsache, dass nicht selten die Wahl der je nach Lager ‚richtigen‘ Methode wichtiger scheint, als deren Nutzen“, ergänzte Idepap. „Dann wird schnell vergessen, dass all diese Dinge uns helfen sollen, Hilfsmittel sind, Werkzeuge, Instrumente. Der Nutzen liegt darin, dass wir eine – nennen wir es ’schwierige‘ – Aufgabe überhaupt bewältigen können und wir es uns damit nicht unnötig schwer machen.“
„Da muss ich selbstkritisch anmerken, dass ich wohl auch einer der Menschen bin, die einen ‚Plan‘ als verbindlich betrachten.“ Emden wirkte bedrückt. „Was mich an ein Gespräch mit einem Projektleiter erinnert, das ich vergangene Woche geführt habe. Ich glaube, er hatte dieses andere Planverständnis. In seinem Plan war die Ursprungsplanung zu sehen und dieser hatte er alle Abweichungen gegenübergestellt. Manche Dinge hatte er gar nicht fertig geplant und immer dort, wo er noch keine Ahnung hatte, ein dickes Fragezeichen gemacht.“
Da Idepap nicht reagierte, sprache Emden weiter. „Eigentlich war das sehr ehrlich, was dieser Mann gemacht hat. Allerdings hat er es in dem Moment nicht geschafft, mir das verständlich zu machen. Und ich mir auch nicht.“ Emden schloss mit diesen Worten den Reißverschluss seiner dunkelblauen Softshell-Jacke mit dem Firmenemblem auf der Brust. „Statt dessen habe ich ihn etwas brüsk auf die Lücken und Abweichungen hingewiesen. Anstatt zu akzeptieren, dass eine Fortschreibung der Planung nur eine Lüge gewesen wäre. Anstatt die mit dem Vorhaben verbundene Unsicherheit zu akzeptieren.“
„Dieser Punkt wird uns noch oft in die Quere kommen, glaube ich“, führte Idepap fort. „Wir müssen in einer von Komplexität geprägten Umgebung darauf vertrauen, dass die Menschen, die sich eines Themas angenommen haben, eine Lösung finden werden. Wenn wir die Richtung und vor allem den angestrebten Nutzen sinnvoll beschrieben und vereinbart haben, müssen wir sie machen lassen und ihnen helfen, dass der Rahmen passt. Dass sie die notwendigen Mittel, die notwendige Zeit, die notwendigen Entscheidungen von außerhalb ihres Teams bekommen. Sofern sie diese nicht selbst beschaffen können.“
„Damit werden Führungskräfte zu einer Art Dienstleister für Projektteams und die Projektleiter, die wir vielleicht anders nennen sollten, zu Dienstleistern ihrer Teammitglieder.“ Emden zog mit einer umständlichen Bewegung sein kleines, schwarzes Notizbüchlein und den ausklappbaren Kugelschreiber aus seiner linken Jackentasche. Diese Gedanken waren definitiv wert, notiert zu werden. „Was eine vermeintlich kleine Verschiebung der Perspektive bewirken kann.“
„Wobei ich behaupte, dass noch niemand die Auswirkungen dieser Sichtweise vollständig begreifen kann, denn wir leben immer noch in einer Welt, die von Taylor und Ford geprägt wurde. Einer Welt der Massenproduktion und der Prozessbeschreibungen. Es wird noch einige Jahre dauern, bis aus den heutigen Keimzellen neuer Organisationsformen ein komplett neues System wird, das eine zu Taylors Ideen vergleichbare Verbeitung hat. Glücklicherweise lassen sich diese neuen Denkansätze auch lokal umsetzen, sofern man sich der Schnittstellen bewusst ist.“
Sie waren inzwischen wieder am Parkplatz angekommen. Idepap öffnete den Kofferraum seines Wagens und holte zwei Flaschen aus dem Seitenfach, wobei er eine Emden entgegen streckte. Der nahm das Angebot dankbar an und trank gleich den halben Inhalt in großen Schlucken. „Gut! Danke.“ Idepap war sich nicht ganz sicher, ob er das Wasser oder ihr Gespräch meinte. Vielleicht ja beides.
Herr Idepap begleitet uns schon seit über einem Jahrzehnt, in dem er so einige Dinge in Projekten und Unternehmen erlebt. Er denkt deshalb viel nach über die Welt und ihre Zusammenhänge. Wie auch hier. Einen Auszug der Projektgeschichten mit Herrn Idepap gibt es als kleines Büchlein: „Gestatten, Idepap!“ erschienen im tredition-Verlag im Juni 2015. Käuflich im Buchhandel wie auch bei amazon.de.
Dieser Beitrag ist entstanden als zweiter Teil der Antwort auf den Aufruf des Berliner PM Camps zur Blogparade unter der Überschrift „Komplexität – In Projekten und darüber hinaus …„. Der erste Teil erschien am 2. September 2015 unter der Überschrift „Gestatten, Idepap! Über Komplexität.“ Danke nochmals für den Impuls und für das wieder einmal sehr konstruktive und lehrreiche PM Camp.
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