Jamaika-Koalition geplatzt: Was, wenn Politik agil denken würde?

Agile Denkweise kann helfen Brücken zu bauen, weil sie Entwicklung zulässt. Davon könnten Politiker profitieren, wenn sie Koaltionsvereinbarungen verhandeln.

Ein Zwischenruf.

Eine Sache habe ich noch nie verstanden: warum werden in einem Koalitionsvertrag alle Details des Handelns samt aller Lösungen für die anstehenden Probleme festgeschrieben? Das sperrt das Klügerwerden aus dem politischen Betrieb aus, bis wieder gewählt wird. Nun sind die Koalitionsverhandlungen daran gescheitert, dass man sich nicht einigen konnte. Wäre es nicht clever, einen Koalitionsvertrag etwa als Backlog eines Kanban-Boards zu verstehen? Und sich dann grundsätzlich darüber zu einigen, welche Probleme in einer Legislaturperiode gelöst werden sollen und mit welchem Nutzen? Um sich anschließend über Prinzipien oder Spielregeln zu unterhalten, wie die Bearbeitung vonstattengehen soll. Zu naiv? Ein auf ein methodisches Beispiel reduziertes Gedankenexperiment.

Ich bin der festen Überzeugung, dass Politik von agilen Denkweisen profitieren könnte. Und damit meine ich die Haltung, die im agilen Manifest zum Ausdruck kommt. Die davon ausgeht, dass wir alle im Laufe der Zeit klüger werden, dass wir den Lauf der Welt nicht vorhersagen können und dass sich Problemlagen im Laufe der Zeit ändern. Und mit ihnen die notwendigen Prioritäten.

Die Probleme aktueller Politik beginnen bereits bei den Parteiprogrammen, die doch stets Lösungen beschreiben, die dann von den Gewählten in politisches Handeln umgesetzt werden sollen. Da ist der wenig konstruktive Konflikt bereits programmiert. Womit die aktuellen Verhandlungspartner nun eben leben müssen. Was aber, wenn auf dem Weg eine geschicktere Lösung in Sicht kommt oder neue Erkenntnisse zu anderen Einsichten führen? Was, wenn sich die Problemlage ändert? Dann kommt man nicht mehr aus. Es ist vertraglich zementiert, was diskutiert und worauf hingearbeitet werden muss. Und dann wird, vermutlich immer wieder trotz besseren Wissens, daran festgehalten.

Wo potenzielle Koalitionspartner zusammenkommen, öffnet sich erst einmal ein Möglichkeitsraum

Mein Bild guter Politik ist ein anderes. Ich unterstelle dabei, dass die Parteien an der Macht grundsätzlich Gutes für unsere Gemeinschaft erreichen wollen. Was ist also „das Gute“ im Sinne der an Verhandlungen beteiligten Parteien und was im Guten sind die Schwerpunkte, auf die es in einer Zusammenarbeit ankommt? Das ist dort, wo mehrere Parteien aufeinandertreffen, erst einmal ein Möglichkeitsraum für alle Beteiligten. Es gilt sich über den Nutzen für uns, für die Gemeinschaft zu einigen. Für jede einzelne Partei bleibt die Frage leitend, welche Zielfelder mit den potenziellen Koalitionspartnern eine Chance auf Realisierung haben. Über die konkrete Lösung gilt es dann später zu streiten. Wer sich darauf fokussiert, was er alles nicht realisieren kann, schiebt das gesamte Konstrukt auf die Verliererstraße. Schöne Grüße vom Gefangenendilemma.

„Wir sind in Sachen Breitband so gut aufgestellt, dass jeder Bürger jederzeit in Stadt und auf dem Land ein digitales Geschäftsmodell betreiben kann.“ könnte ein erster Ansatz sein, um einen solchen Schwerpunkt aus Sicht der Bürger zu beschreiben. (Um die geht es übrigens. Diese Randbemerkung sei mir erlaubt.) Aus einem solchen Zielfeld wird dann eine Karte auf dem Kanban-Board der Koalitionäre. Dieses Ziel hinter dem Ziel ist es, das Grundlage der Koalitionsvereinbarung wird. Oder um in Sachen Klimaschutz zu formulieren: nicht wie viel Prozent Elektroautos auf den Straßen fahren sollen, ist im Vertrag festgezurrt, sondern der Anspruch an den Schutz des Klimas. Die Schwerpunkte selbst gilt es dann in ihrer Gesamtheit zu priorisieren, damit die Auswahl im operativen Politikbetrieb, später leichter gelingt.

Das gemeinsame Ziel hinter dem Ziel ist relevant

Die Kunst in einer Koalitionsverhandlung ist es, den gemeinsamen Nenner hinter den politischen Aussagen zu identifizieren. Was ist das „Sowohl als auch“ hinter den Anforderungen der unterschiedlichen Parteien. Wenn ich da lese, dass Angela Merkel die Sitzungen „moderiere“, dann kann ich nur hoffen, dass ich mich verlesen habe. Das kann nicht gelingen, mit Verlaub. Das liegt in erster Näherung nicht an Frau Merkel als Person. Wo inhaltlich interessierte Verhandlungspartner beteiligt sind, braucht es als Moderator einen Menschen, der ein ernsthaftes Interesse an einer gemeinsamen Zielfindung hat. Die Bundeskanzlerin, so darf ich unterstellen, dürfte eher Interesse an der Durchsetzung ihrer politischen Ziele haben.

Was eine Koalitionsvereinbarung dann noch braucht, kann man als Prinzipien oder Spielregeln definieren. Wie erfolgt die Auswahl der Themen zur Bearbeitung, wenn es in die Umsetzung geht? Wie kommt es zu Entscheidungen? Wie werden Konflikte geklärt? Welche Prinzipien grundsätzlich nötig sind, um eine Organisation auf Zeit und damit die Zusammenarbeit von Koalitionspartnern auf stabile Beine zu stellen, kann man von der Minimum Viable Organisation (MVO) lernen. Auch dies gilt es in der Vereinbarung festzuhalten.

Ich habe das Kanban-Board vor meinem geistigen Auge. Ganz links, in der Sammlung, füllt sich im Rahmen der Koalitionsverhandlungen Kärtchen um Kärtchen. Unterschiede sind wichtig, werden benannt, um später zur Entwicklung einer guten Lösung genutzt zu werden. Gesucht wird trotzdem nach dem Gemeinsamen, nach den Möglichkeiten, nach den Chancen, denn das ist es, was der Wähler gewählt hat: Parteien, die Zukunft gestalten und die Herausforderung annehmen. Dann wandern die Kärtchen, eines nach dem anderen, von links nach rechts. Nicht politisch, vielmehr visuell. Denn auf der rechten Seite des Kanban-Boards findet sich die Spalte für „Erledigt“, was im Projektsinne stets bedeutet: der Nutzen ist hergestellt. Wo sich Problemlagen ändern, wird neu priorisiert. Erkenntnisse fließen ebenso ein und wo neue Probleme auftauchen, werden neue Karten ins Backlog eingereiht. Politik wird stetig klüger und bleibt auch dort, wo viele Überraschungen lauern, stets handlungsfähig. Jedoch keinesfalls alternativlos.

Wie auch immer. Diesmal politisch. Über Kommentare freue ich mich.

Und bitte: Mit Projekten ist mehr möglich, als der ein oder andere Koalitionspartner-Anwärter ahnt.

Ihr
Holger Zimmermann
Projektmensch

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3 Kommentare bei „Jamaika-Koalition geplatzt: Was, wenn Politik agil denken würde?“

  1. Ich halte es nicht für unmöglich. Allerdings ist die konkurrenzorientierte Poltikwettbewerbsstruktur ein Hindernis. Wenn es gelingt eine konkordanzdemorkatische Kultur zu etablieren, verschiebt es sich fast von alleine in „agile“ Muster 😉

  2. Manch große Veränderung begann mit einer scheinbar verrückten Idee. Ich halte es da mit diesem Spruch: „Manche Menschen sehen Dinge, die es gibt, und fragen: ‚Warum?‘ Ich sehe Dinge, die es nie gab, und frage: ‚Warum nicht?'“ Dieses Motto hat schon so manches Projekt beflügelt. Wird mal Roosevelt, mal in Abwandlung dem englischen Dichter Browning zugeschrieben.

  3. Will nicht unken – in einem konsensusdemokratischen System kann ich mir das sehr gut vorstellen. Leider ist D ein konkordanzdemokratisches System und da wäre es dann doch ein extremer struktureller Bruch von Politikern tatsächlich eine agile Herangehensweise zu erwarten. (Achtung, Ironie).

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