Gestatten, Idepap! Über Komplexität.

Komplexität kann entspannend sein: wir brauchen erst gar nicht versuchen, die Dinge unter Kontrolle zu bringen. Das ist aussichtslos.

Idepaps Blick war starr über den See gerichtet. Emden nippte an seinem Cappuccino. Er kannte diesen Blick seines Gegenübers. Und er wusste, dass er bald eine wohl durchdachte Meinung zu seiner Frage hören würde. Vermutlich nichts Abschließendes, denn Idepap überließ das Fazit fast immer seinen Gesprächspartnern. Emden schätzte das an ihm. Idepap brachte ihn so immer wieder dazu, eigene Schlüsse zu ziehen.

Idepap räusperte sich: „Ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll. Mein Kopf ist so voller Gedanken.“ Emden hatte danach gefragt, was Idepap über Komplexität dachte. Eine sehr allgemeine Frage. Komplexität war für Emden ein Schlagwort, so wenig griffig wie Quittengelee.

„Ich habe da mal einen Tweet gelesen, der mir hängen geblieben ist.“ Idepap kramte sein Smartphone hervor. „Ich will es genau wiedergeben“, kommentierte er. „Hier: ‚Komplexität ist, wenn ich heute schon wissen müsste, was ich erst morgen wissen werde, um das Heutige richtig machen zu können.‘ – Da steckt viel drin. Allein über das Wort ‚richtig‘ kann man kräftig stolpern, wenn man es mit Komplexität zu tun hat.“ Emden war einfach nur ruhig. Er wollte Idepaps Gedanken auf keinen Fall unterbrechen. Auch wenn ihm so viele Fragen in den Sinn kamen. Er nippte weiter an seinem Cappuccino, während Idepaps kalt wurde, ohne dass er ihn angerührt hatte.

„Wenn wir von Komplexität sprechen, dann sprechen wir davon, dass wir nicht davon ausgehen dürfen, dass wir wissen. Wir können ahnen und annehmen, wir wissen jedoch nicht, welche Auswirkung welche Tat haben wird. Die Möglichkeiten sind zu vielfältig. Womit wir uns auch vom Gedanken der Kontrollierbarkeit verabschieden müssen. Wir können die Dinge nicht mehr kontrollieren, wir können sie maximal beeinflussen.“

Emden war klar, wie sehr das dem widersprach, wie er heute sein Unternehmen aufgestellt hatte. Alles war darauf ausgerichtet, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Die Kennzahlen waren nur das letzte Glied der Kette daraus. Und er selbst war auch so programmiert, dass er die Dinge unter Kontrolle halten wollte. Wobei er annahm, dass dies auch möglich war.

„Nicht alle Dinge sind komplex.“ Idepap unterstrich diesen Gedanken förmlich, indem er mit den Händen versuchte eine Trennlinie darzustellen. „Weshalb wir aufpassen müssen, womit wir es zu tun haben. Die Produktion einer Sondermaschine etwa ist in vielen Bereichen lediglich kompliziert. Wir können mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen, was wie zusammenwirken wird. Wir müssen nur gut darüber nachdenken und das vermutlich nicht alleine, wie das alles zusammenpassen wird. Davon spreche ich nicht, wenn ich von Komplexität spreche.“

Ein „Aha!“ war alles, was Emden zu diesem Zeitpunkt kommentieren konnte. Sein Gehirn lief auch Hochtouren, dachte über seine Projekte nach und die anstehenden Aufgaben in seiner Firma. Und auch über das Einfamilienhaus, das er gerade bauen ließ. „Und was ist dann jetzt Komplexität?“, hakte er vorsichtig nach, als Idepap schon eine ganze Weile nichts mehr von sich gab.

„Ich bin da noch zu keinem endgültigen Gedanken-Konstrukt gekommen. Für mich ist etwas dann komplex, wenn ich keine Ursache-Wirkung-Zusammenhänge mehr herstellen kann. Ich bin ein Nicht-Wissender, stolpere in einem komplexen Thema umher und kenne den Weg nicht. Ich kann die verschiedenen Stellhebel eines Systems nicht einmal erahnen, geschweige denn deren Zusammenwirken sowie die beeinflussenden Umfeldfaktoren. ‚Unüberschaubarkeit‘ ist ein Wort, das mir im Zusammenhang mit Komplexität immer wieder in den Sinn kommt. Conny Dethloff schreibt in diesem Zusammenhang in seinem Blog von ‚Überraschungen‘ und ‚Leben‘ – was ziemlich gut trifft.“

Nun nippte Idepap doch an seinem Cappuccino. Es schien ihm nichts auszumachen, kalten Kaffee zu trinken. „Ein herrlicher Fleck Erde, finden Sie nicht?“ Idepaps Blick war erneut über den See gerichtet. Er war öfter hier, gerade wenn er nachdenken wollte oder in Ruhe gute Gespräche führen. Dafür war es ihm in der Stadt zu hektisch. Im Laufe der Jahre hatte er immer wieder festgestellt, dass die Natur eine beruhigende Wirkung selbst auf hektische Geister hatte.

„Wenn etwas komplex ist und ich erkenne das, dann ist das stressreduzierend, finde ich. Ich brauche mich erst gar nicht bemühen, die Situation kontrollieren zu können. Statt dessen sollte ich mich als Lernender sehen. Ich denke nach, wie ich ein Problem lösen oder ein Ziel erreichen könnte. Dann mache ich einen Schritt und schaue nach, wo die Unterschiede liegen zwischen meinem ‚Plan‘ und der Realität. Daraus kann ich Schlüsse ziehen. Ich passe daraufhin das an, was ich als ‚Plan‘ bezeichnet habe, mache ihn vermeintlich besser. Dann kommt der nächste Schritt. Ich betrachte das Delta aus Plan und Realität, lerne daraus, ziehe meine Schlüsse, passe den Plan an und so fort. Wobei ich versuche ein System zu bauen, das mit dieser Logik möglichst spielend klar kommt.“

„Und wie will ich all das in meinem Unternehmen steuern?“, fragte Emden. „Gar nicht.“ , war Idepaps kurze Antwort. „Ich denke, Sie müssen alle Mitstreiter, die an komplexen Themen arbeiten, in die Lage versetzen, möglichst ohne zentrales Zutun im Sinne der Unternehmensziele zu handeln. Wo wir früher eindeutige Abläufe definiert haben, gilt es heute organisatorische Spielregeln der Zusammenarbeit zu vereinbaren und für Vertrauen zu sorgen. Und das mit ständig neuen Mitstreitern, denn was wir bisher als Lieferanten kennengelernt haben, das sind in derartigen Vorhaben ebenfalls Mitstreiter, ebenso wie unsere Abnehmer, ohne deren Zutun wir das Ergebnis nicht liefern können.“

„Können wir einen Spaziergang machen?“ Emden war anzusehen, dass es in ihm arbeitete. Er hatte bereits mit dem Geldbeutel signalisiert, dass er zahlen wollte. „Das reibt mich auf. Das ist so anders, als alles, was ich bisher über Organisation gedacht habe.“

„Kann schon sein“, erwiderte Idepap, der bereits aufgestanden war und schmunzelnd gen Wasser schlenderte. „Wobei ich behaupte, dass es derzeit noch niemanden gibt, der darauf abschließende Antworten gefunden hat, die unsere Unternehmen prägen werden, wie es Taylor und Ford getan haben.“ [weiterlesen Teil 2]


Herr Idepap begleitet uns schon seit über einem Jahrzehnt, in dem er so einige Dinge in Projekten und Unternehmen erlebt, die sonst niemand erlebt. Er denkt deshalb viel nach über die Welt und ihre Zusammenhänge. Wie auch hier. Einen Auszug der Projektgeschichten mit Herrn Idepap gibt es als kleines Büchlein: „Gestatten, Idepap!“ erschienen im tredition-Verlag im Juni 2015. Käuflich im Buchhandel wie auch bei amazon.de.

Dieser Beitrag ist entstanden als Antwort auf den Aufruf des Berliner PM Camps zur Blogparade unter der Überschrift „Komplexität – In Projekten und darüber hinaus …„. Danke für den Impuls.

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6 Kommentare bei „Gestatten, Idepap! Über Komplexität.“

  1. […] im Moment deutlich zu spüren bekommen. Hinz geht es um den Unterschied zwischen kompliziert und komplex, der auch den Unterschied darüber macht, wie geführt werden kann und muss. Dazu hat Hinz eine […]

  2. […] lieben“. Ein bisschen denkt es jetzt doch. Hatten wir es nicht erst kürzlich davon und von Komplexität? Da kann die Logik schon mal ausfallen und der Widerspruch den Raum besetzen. „Und da hilft es […]

  3. […] Projekte (lange ist es her) und damit auch an das Team des PM Camp Berlin, die dieses Jahr „Komplexität“ aufgerufen haben. Außerdem an Heiko Stapf, der das Cynefin-Framework in einem einzelnen […]

  4. […] darüber hinaus …„. Der erste Teil erschien am 2. September 2015 unter der Überschrift „Gestatten, Idepap! Über Komplexität.“ Danke nochmals für den Impuls und für das wieder einmal sehr konstruktive und lehrreiche […]

  5. […] Gestatten, Idepap! Über Komplexität. – Holger Zimmermann […]

  6. […] Gestatten, Idepap! Über Komplexität. – Holger Zimmermann […]

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